Passagen aus fünf Erzählcafés – Heiter, traurig, nachdenklich

  • 5. Juli 2013
Passagen aus fünf Erzählcafés – Heiter, traurig, nachdenklich

Weimar/Jena. Gemeinwesenarbeit beinhaltet auch Kulturarbeit. Da ich unter anderem Volkskunde und Kulturgeschichte studiert habe, reizte mich das Thema „Geschichten erzählen“. Und so entstand die Idee, ein „Erzählcafé“ zu initiieren.
Durch meine damalige Tätigkeit als Stadtteilmanager in Weimar-West lernte ich viele Spätaussiedler aus den GUS-Ländern kennen. So hatte ich nicht nur potenzielle Teilnehmer, sondern auch Inhalte für das Erzählcafé, die besten Voraussetzungen anzufangen. Am 21.04.06 fiel der Startschuss für das erste Erzählcafé. Es stand unter dem Motto „Erzählen und Erinnern – Geschichten rund um Weimar-West“. Hier wurden zum Beispiel kuriose Erlebnisse vom Einzug in die Neubauwohnung geschildert (siehe: „Und dann sind wir über den Balkon eingezogen“).

Das Erzählcafé war eines der ersten kulturellen Projekte im damals nur teilweise sanierten Bürgerzentrum Weimar-West, was heute noch läuft. In den drei Jahren, in denen ich das Erzählcafé, zum Teil mit Christian Heinze, moderierte, sammelte sich ein Mitschnitt von über 40 Stunden Erzählstoff an. Insgesamt veranstaltete ich 27. Erzählcafés.

Was beinhaltet alles ein Erzaehlcafe
Aber was ist eigentlich ein Erzählcafé? Sabine Gieschler, die zehn Jahre lang am Berliner Wedding ein Erzählcafé organisierte und moderierte, bringt es auf den Punkt: sie bezeichnet es als „Forum für erlebte Geschichte“. Ein Erzählcafé braucht auch ein ansprechendes Ambiente. Und das fanden wir in der Bibliothek des Bürgerzentrums. Jeden ersten Donnerstag um 18 Uhr veranstalteten wir unsere Erzählcafés. Für die Gäste lohnte es sich gleich im doppelten Sinne, denn es gab auch Kaffee oder Tee sowie eine herzhafte Kleinigkeit. Im örtlichen REWE-Markt konnten wir uns Lebensmittel auswählen, die wir dann den Gästen kredenzten. Soviel zum Drumherum.

Noch eine Bemerkung zur Rekrutierung der Erzählerinnen und Erzähler. Wie schon erwähnt, hatte ich durch meine Tätigkeit als Stadtteilmanager mit vielen Menschen, ob Bewohner, Ehrenamtliche, Studenten oder Projektträger zu tun. So konnte ich auch immer eine Vielfalt an Erzählern garantieren, natürlich wurden mir auch Personen empfohlen und vermittelt.

Erzählt haben zum Beispiel viele Spätaussiedler aus Kasachstan, die zu den Stammgästen gehörten, Studenten der Bauhaus-Universität, die aus Nordirland, Kanada und Norwegen kamen und die im Rahmen ihres Studiums im Bürgerzentrum Projekte umsetzten, Bewohner mit ausländischen Wurzeln, aus Syrien und Tunesien, oder Aktive aus dem Bürgerzentrum, die biografisch über ihre Erlebnisse als Bergmann bei der Wismut oder als Schweißer an der Druschba-Trasse berichteten.

In den drei Jahren (2006-2008) etablierte sich ein generationsübergreifender und international besetzter Gesprächskreis, dem ca. 20 Stammgäste angehörten. Die Veranstaltungen wurden immer öffentlich in den Tageszeitungen angekündigt, und in Abhängigkeit des Themas wuchs der Kreis auch mal auf 30 Personen an.

Mit der nachfolgenden Auswahl (vier Erzählerinnen und ein Erzähler) habe ich versucht, eine Mischung aus anekdotischen, tragischen und lebensentscheidenden Szenen zusammen zu stellen. Geschichten aus seinem Leben zu erzählen, sofern sie nicht gerade anekdotisch anmuten lassen, lassen sich leichter erzählen als Erlebnisse, die für den Erzähler prägend waren.

Zu bedenken ist hierbei immer, dass die Situationen und Erlebnisse rückblickend, also aus heutiger Erfahrungs- und Erzählperspektive berichtet wurden. Das heißt, Erfahrungen prägen den Menschen und fordern ihn immer wieder reflektierend zu neuen Interpretationen und Sichtweisen des Erlebten heraus. In diesem Sinne ist das Erzählcafé für alle Beteiligten auch eine kleine „Bildungsinstitution“ geworden, die es heute noch gibt.

Steffi E. „Ich war dort irgendwie schon ein Exot“ (26. Erzählcafé, 06.11.08)

Steffi E. (geb. 1945) studierte an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena Psychologie und schloss ihr Studium 1970 ab. In Jena lernte sie auch ihren zukünftigen Mann kennen, der als Architekt nach Berlin an die Bauakademie ging. Sie war Kinderbeauftragte der Stadt Weimar von 1991 bis 2010.

Ich wollte auch nach Berlin. Und Berlin war sozusagen ein ganz schwieriges Gelände. Man kam ja nicht da rein, wenn man nicht eine Arbeit hatte. Und man bekam nur eine Arbeit, wenn man eine Wohnung hatte, und das biss sich immer in den Schwanz. Also was machte man, man hat untervermietet oder sich eingemietet, was ich dann auch getan habe.

Mein Mann war an der Bauakademie, am Institut für Städtebau und Architektur. Die haben sich inhaltlich damit beschäftigt, wie man Städte baut, sodass sich Menschen wohl fühlen, etwas banal ausgedrückt. Und 1970 stellten sie in dem Institut fest, dass sie ein Forschungsinstitution für Städtebauforschung sind und keine Soziologen haben, die sich analytisch mit gesellschaftlichen Prozessen beschäftigen. Und die DDR hatte damals noch keine Soziologen ausgebildet. Die Bauakademie wollte einen Imagegewinn haben und brauchte eine Abteilung Städtebausoziologie. Sie haben Leute gesucht und dann sechs Leute zusammengestellt. Das waren zwei Psychologen, zwei Architekten und zwei Philosophen. Das war eine ganz verrückte und interessante Mischung. Die Philosophen waren keine Leute mit borniertem Kastendenken, dass waren sehr offene Leute. Der eine kam zum Beispiel aus der Filmbranche. Und wir haben zu sechst die Arbeitsgruppe Stadtsoziologie gegründet. Es war ein bisschen schwierig, die haben Soziologie, den analytischen und kritischen Ansatz, den Soziologie haben muss, den haben die mit Gesellschaftskritik verwechselt. Und diese wurde nicht gern gesehen.

Wir haben tolle Untersuchungen gemacht, zum Beispiel das Leben in Neubaugebieten oder wie Mietergärten sich auf das Wohlbefinden auswirken. Wir haben in der ganzen DDR Neubaugebiete untersucht. Und das haben wir alles für den Panzerschrank gemacht, das kann man nicht anders sagen. Alles was kritisch beschrieben wurde, wurde weggeschlossen.

Steffi E.

Im Prinzip hat mir das sehr die Augen geöffnet für ganz neue Sichtweisen, für eine ganz neue Art zu leben. Dort waren viele Architekten und Künstler in diesen Abteilungen. Wir arbeiteten direkt „Unter den Linden“. Man guckte auf die Siegessäule, dass war ein verrücktes Leben. Aber es ist nicht wirklich was passiert. Wir waren eher so eine Art Aushängeschild nach dem Westen hin, nach dem Motto, wir haben so eine Forschung auch.

Irgendwie war das unbefriedigend, dass man nichts nach Außen bringen konnte. Man hatte auch nicht immer richtige Aufgaben für uns. Und irgendwann habe ich mir dann das große Themenfeld Kinder in der Stadt gesucht. Und das war eigentlich der Sprung in mein ganzes weiteres Leben, das was ich jetzt auch mache.

Das heißt, ich habe mich zu Anfang mit Spielen in der Stadt beschäftigt, und da kommt man auf Spielplätze, Schulhöfe, Spielen im öffentlichen Raum.

Ich habe Untersuchungen in Marzahn durchgeführt. Es gab dort einen riesengroßen Spielplatz. Ich habe dort monatelang gesessen, fotografiert, und Analysen gemacht, wo sich Kinder aufhalten, wie und was sie spielen, was sie kaputt machen. Da habe ich nie eingegriffen. Das war eine ganz spannende Geschichte, weil man daraus Erkenntnisse gewonnen hat, wie man mit Kindern in der Stadt rechnen muss, wie Kinder sich verhalten. Ich hatte dann auch die Möglichkeit, viele Sachen zu veröffentlichen. Und ich bin mit vielen Designern und Künstlern zusammen gekommen, weil die Dinge für Kinder machen wollten, Spielobjekte für Kinder, Spielplätze, Wartezimmer für Ärzte, die sie zwar schön machen konnten, aber es fehlte ihnen jemand, der ihnen sagte, wie es funktioniert, wie sie angenommen werden, wie Kinder damit umgehen, was ihnen gut tut, was vielleicht nicht gut tut. Und das war eine super tolle Zeit für mich. Ich arbeitete acht Jahre in der Bauakademie und war dort irgendwie schon ein Exot. Es wurden dann Leute auf mich aufmerksam, dass es da jemanden gibt, der etwas macht, was es in der DDR bis dahin so noch nicht gab. Und das hat mir sehr geholfen.

Es gab ganz lustige Erlebnisse, als ich die Untersuchungen in Berlin Marzahn gemacht habe. Da saß ich dann mit dem Fotoapparat, Jeans und mit einem bunten Hemd. Und die Kinder haben gedacht, ich bin ein Penner und habe kein Zuhause. Und die sind ja lieb und ich strahle ja vielleicht nicht un-bedingt so eine aggressive Stimmung aus, die kamen dann und haben mich eingeladen, ob ich nicht mit ihnen essen will, und haben mir was zu trinken gebracht. Da hat man ganz viele Kontakte be-kommen und da habe ich damals schon gemerkt, dass es ganz wichtig ist, dass sich Erwachsene mit ihnen beschäftigen. Kinder brauchen einfach Erwachsene, die sich öffnen, die ihnen als Partner begegnen und ihnen nicht so von oben mit dem pädagogischen Zeigefinger kommen, du hast jetzt was kaputt gemacht, was hast du jetzt gemacht, mach mal das, und das darfst du nicht. Kinder brauchen Grenzen, klar, Kinder brauchen auch das Loslassen, um sich selber auszuprobieren. Und so was habe ich dort an ganz praktischen Dingen gelernt.

Eugenie U.: „So haben wir die Mutter verloren“ (5. Erzählcafé, 07.09.06)

Eugenie U. ist Spätaussiedlerin und wohnt in Weimar-West.

Eugenie U.

Ich bin in der Ukraine geboren. Wir waren sechs Geschwister. Meine Mutter war 33 und mein Vater 41. Keiner hat an Krieg gedacht. Mein Vater kam in die Trudarmee , in den Ural nach Sibirien. Am 28.08.41 mussten alle Deutschen innerhalb von 24 Stunden raus aus ihrer Heimat. Unsere Mutter hat sehr geweint, sie wollte nicht. Das kleine Brüderchen war erst ein Jahr alt. Aber es kamen Soldaten mit Pferden und Wagen. Und wir haben uns auf den Wagen gesetzt und sind zum Bahnhof gefahren.
Wir haben einen großen Garten gehabt, ein Haus, Bienen, alles, wie eine glückliche Familie. Wir haben uns gefreut, jeden Tag.

Wir haben einen großen Hund gehabt, mit dem Namen Scharik, und der wollte auch mit. Ein Soldat hat ihn erschossen. Wir haben sehr geweint. Dann mussten wir in den Zug, in Viehwaggons. Wir sind einen Monat mit dem Zug nach Kasachstan gefahren. Bombardiert haben sie den Zug, wir mussten raus und rein, so auch die Mutter mit den kleinen Kindern. Die große Schwester war 15 Jahre alt, sie hat der Mutter geholfen.

Dann kamen wir nach Kasachstan und hausten wie Vieh im Stall. Es war kalt. Es war Ende Oktober, es hat schon geschneit. Wir waren in einem kleinen Dorf, mit ca. 10 bis 15 Erdhäuschen. Die Mutter musste gleich arbeiten, schwere Arbeit auf dem Feld. Handarbeit war das. Sie ist krank geworden, erkältet. Es gab kein Krankenhaus, keinen Arzt. Sie hat gelegen und hatte Fieber. Sie musste immer auf die Arbeit, sie sollte nicht zu Hause liegen. Wir waren Faschisten und sollten arbeiten. Die Mutter, nicht wir. Und dann ist sie gestorben. Neun Tage hat sie gelegen. Keiner konnte sie beerdigen. Das war im Dezember. In dieser Zeit starben noch ein Bruder und eine ältere Schwester. Schließlich kamen ältere Leute zu uns, es waren schon Deutsche dort, und die haben ein Loch gegraben und ein bisschen Stroh hinein gelegt. Dann legten sie die drei Leichen hinein und haben es wieder mit Stroh zugedeckt. So haben wir die Mutter verloren.

Erzaehlcafe Weimar West_1

Brigitte G.: „Und dann sind wir über den Balkon eingezogen“ (1. Erzählcafé, 21.04.06)

Brigitte G. wohnt seit 1980 in Weimar-West, in einem Elfgeschosser, und schildert ihre Erfahrungen beim Einzug und als Angestellte der Wohnungsgenossenschaft.

Wir sind 1980 hier eingezogen. Am 1. Oktober haben wir die Wohnung bekommen. Da stand der B-Block, der C-Block war im Rohbau fertig, und der A-Block war bis zur vierten Etage hochgezogen. Und weil wir die Wohnung hatten, haben wir gesagt, dann ziehen wir ein.

Und wie das so schön ist, ehe wir von der Schubertstraße (in der Stadt) alles beladen hatten, das wurde ja alles außerhalb der Arbeitszeit gemacht, und hier ankamen, da war vorne am Eingang alles zugeschlossen. Wir standen mit dem Möbelwagen da und konnten nicht rein! Da sagte meine Tochter, „Ach Mutti, da läuft einer mit’m gelben Helm“, ich sagte, „lauf mal hinterher und hol ihn“. Es war der 6. Oktober und der nächste Tag war ein Feiertag. Und da kam er an und sagte, „was machen wir nun?“. Da sind sie dann mit dem LKW hinten ran gefahren, da wo der Montagekran stand. Der Baukran hatte eine Deckenplatte angespannt und die Bauarbeiter legten Filz drauf und dann haben sie unsere Möbel drauf geladen. Und dann sind wir über den Balkon eingezogen. Das haben wir aber vorher gemessen, ob wir auch durch die Balkontür unsere Schränke durchkriegen. Wir hatten nur das Schlafzimmer, das Wohnzimmer stand noch in der Schubertstraße. Das Kinderzimmer war fertig und die Küche war ja sowieso da. Millimetergenau haben sie die Bodenplatte auf dem Balkon aufgesetzt und dann haben wir abgeladen. Und mit ach und krach haben wir dann die Schränke durch die Balkontür durchgekriegt. Grade so sind’se durchgerutscht, die Schränke. Wir hatten ja verschiedene Leute mit, die dann noch geholfen haben. Da konnten wir dann mit ach und krach unseren Kopf noch in unser Bett legen. Ach war’n wir froh.

Prager Straße

Und damit wir überhaupt in die Wohnung kamen, da war ja nun alles zu, haben sie vom A-Block her, da waren diese Zwischenräume alle zugemauert, was später diese Verbindungstüren waren, da haben sie die eingeschlagen, und wir mussten, das war wie’n Krimi, und mussten dann durch den Keller, vom A-Block die Bautreppen hochlaufen, die waren alle wacklig und dreckig, und mussten dort rein und dann wieder runter in die erste Etage zu unserer Wohnung. Wir waren so froh, als wir dann in der Wohnung waren. Der B-Block war fix und fertig zum Einziehen. Bloß der wurde noch nicht freigegeben, weil der Fahrstuhl noch nicht fertig war. Die Fahrstuhlbauer waren noch am Arbeiten.

Und da wohnten wir nun ab dem 6. Oktober in dem Haus. Und am nächsten Tag riefen sie überall an, wie das möglich ist, da sind Leute schwarz eingezogen, die haben den Kran genommen und sind in die Wohnung eingezogen. Das war ganz schön lustig für uns.

Wir haben ganz alleine im B-Block gewohnt, der hatte nur 77 Wohnungen wegen dem Fahrstuhl. Wir hatten Wasser und Strom, aber keine Heizung, die ging noch nicht. Da haben sie uns Aggregate gegeben und dann haben wir es in der Wohnung auch warm gehabt. Und am 7. November 1980 war dann für Block B die Schlüsselübergabe.

Und dann bin ich los. Sie wissen ja, zur DDR-Zeit hat jeder jedes gebrauchen können. Da hatte ich so’ne Kiste mit Schlüsseln. Und immer wenn Handwerker in die Wohnung rein sind, musste ich mit denen mitgehen, musste die Wohnung aufschließen und solange daneben stehen bleiben. Die Mischbatterien und alles andere waren schon angeschraubt. Und es gab Häuser, wo das Wasser die Treppe runter schoss, weil die Mischbatterien abgebaut wurden.

Ich kam mir vor, wie ein Gefängniswärter. Ich war bei der AWG angestellt.

Birte R.: „Ich hab’ nichts mehr um mich herum wahrgenommen. Ich war nur in dieser Geschichte.“ (15. Erzählcafé, 02.08.07)

Birte R., Atem-, Sprech- und Stimmlehrerin, ist nebenberuflich Märchenerzählerin. Als Einstieg in das Erzählcafé gibt sie eine Kostprobe ihrer Erzählkunst und beantwortet anschließend die Frage „Wie wird man Erzählerin?“.

Die Wahrheit ging durch die Straßen der Stadt, denn sie wollte zu den Menschen kommen. Sie war nackt und bloß, und die Menschen flohen vor ihr. Sie versperrten ihre Häuser, sie versperrten ihre Herzen vor der Wahrheit. Das machte sie sehr traurig. Und als sie wieder einmal durch die Straßen der Stadt ging, um zu den Menschen zu kommen, da begegnete sie der Fantasie. Wahrheit, warum siehst du denn so traurig, so betrübt aus? Ach ich bin alt, und deshalb mögen mich die Menschen nicht mehr. Nein, nicht weil du alt bist, mögen dich die Menschen nicht mehr. Ich will dir ein Ge-heimnis verraten. Die Menschen lieben es, wenn man in prächtigen Gewändern zu ihnen kommt. Mit Perlen, mit seidenen Tüchern, mit bunten Federn, mit prächtigen Gewändern, so wie ich. Und damit nahm die Fantasie die Wahrheit lachend bei der Hand. Und seitdem gehen sie gemeinsam durch die Welt und nennen sich Märchen. Und sie sind in den Häusern und Herzen der Menschen ein gerne gesehener Gast.

Birte R.Bei mir wurde schon sehr früh die Liebe zur Sprache geweckt. Durch verschiedene Dinge. Ich hatte das Glück, dass ich eine Oma gehabt habe, die ganz, ganz toll Märchen vorgelesen hat. Und das endete immer damit, dass wir dann bei ihr geschlafen haben. Da war so eine Lampe an der Decke, die wie der Mond war. Und sie schickte dann immer noch den Spruch hinterher, „nun schlaft sanft und gut und kugelrund bis morgen früh zur Kaffeestund’“. Sie hatte wirklich Freude daran, und das hat sie mir mitgegeben.
Dass es mich dann wieder zum Erzählen gebracht hat, das ist das Erlebnis eines Erzählers, der frei erzählt hat, in Flensburg, wo ich damals gearbeitet habe. Es war im Winter. Es war in einem Gasthof, in einem alten Gewölbekeller mit einer wunderbaren mittelalterlichen Atmosphäre. Und der hat also den ganzen Abend frei erzählt. Und besonders mit der letzten Geschichte, das war eine Legende von Selma Lagerlöf, eine sehr lange Geschichte, hat er mich so in seinen Bann geschlagen, dass ich so in diese Geschichte eingetaucht bin, in dieses, was da passierte. Es ist so, dass dann in dem Märchen, in dem bitterkalten Winterwald plötzlich in der Christnacht das Wunder passiert, dass dieser Wald aufwacht, und dass dann der Schnee zurück weicht.

Also wie er das erzählt hat, ich war hin und weg, ich hab’ nichts mehr um mich herum wahrgenommen. Ich war nur in dieser Geschichte. Und dann bin ich danach zu ihm hin, zu Klaus Dörre, und fragte, wo kann man das lernen. Und er sagte, in einem Monat hätte er da noch einen Platz frei, in einem Workshop und da könnte ich gerne dazu kommen. Und so hat das dann für mich angefangen, vor fünf Jahren, dass ich mich damit beschäftigt hab’, verschiedene Workshops besucht hab’. Ich habe viele Erzähler gehört und dann noch eine Ausbildung abgeschlossen, bei Jana Raile, die eine sehr umfassende Erzählausbildung macht, die geht über sieben lange Wochenenden.

Andreas N.: „Und der sagte was von Junger Gemeinde und lud mich da ein“ (20. Erzählcafé, 06.03.08)

Andreas N. ist Pfarrer im Evangelischen Gemeindezentrum Paul Schneider in Weimar-West.

Andreas N.

Wie bin ich überhaupt in Kontakt mit Kirche gekommen? Von mir aus hätte ich im Leben nie so etwas gemacht. Es gab einen Jungen, der stand jeden Morgen auf der Straße zu meinem Schulweg und wartete auf mich. Irgendwann hat das angefangen. Und wir sind immer zusammen in die Schule gegangen. Lange. Haben uns unterhalten, haben uns aber nie getroffen. Und der sagte was von Junger Gemeinde und lud mich da ein.

Eines Tages stand er nicht mehr an der Straße. Sie ahnen es schon. Er hatte sich das Leben genommen. Und diese Einladung, die ging mir nach. Und irgendwie war die Einladung so was, heute könnte man sagen, wie so’n Vermächtnis. Und ich dachte, ich mach’ das mal. Ich geh’ da mal hin, auch wenn mich da nichts hinzog. Auch wenn ich sozusagen die tiefsten Vorurteile hatte. Ich bin dorthin gekommen, in einen Raum, klein, eng, viele Sofas, wahnsinnig viele junge Menschen in einem intensiven Diskussionsprozess.

Das hat mich unheimlich fasziniert, weil ich auf einmal auf ein Denken und eine Sprache gestoßen bin. Das war für mich eine völlig neue Welt. Für mich war vorher einfach so normal, dass was vom Schul-FDJ-Sekretär oder wie auch immer kam, sozusagen durchgestellt wurde, sie kennen das alle. Das war für mich normal, ich kannte es nicht anders. Aber ich habe, je älter ich wurde, ein immer größeres Unbehagen gespürt, weil alles so formal war, viele Lippenbekenntnisse, viele Phrasen, die man so nachbeten konnte, das hatte ja alles so’n Litanei-Ton, die historische Mission der Arbeiterklasse, wenn die nicht fünfmal in einer Rede vorkam. Ich hätte das von mir aus sicher nicht hinterfragt.

Der vollständige Beitrag wurde veröffentlicht in: Thüringer Hefte für Volkskunde (Band 20). Menschen – Dinge – Landschaften. 20 Jahre Thüringische Vereinigung für Volkskunde e.V.

Autor: Andreas Mehlich